We are, as a species, addicted to story. Even when the body goes to sleep, the mind stays up all night, telling itself stories.
Jonathan Gotschall

Storytelling – Von der Natur des Menschen

Die Zeiten, in denen Menschen meilenweite Umwege für das Produkt ihrer Lieblingsmarke in Kauf nahmen, sind lange vorbei. Mein Vater war passionierter Camel-Raucher. Minipli, zerschlissene Jeans, Zigarette im Mundwinkel – so sah man ihn in den Sommern der 70er und 80er Jahre hinterm Jägerzaun im Garten arbeiten. Regelmäßig stieg er in den Teich, um die veralgte Pumpe zu reinigen, und tatsächlich wirkte er zwischen all dem Schilf kein bisschen weniger verwegen, als der Abenteurer auf den Camel-Anzeigen. Genau wie dem schnauzbärtigen Testimonial kam auch meinem Vater keine andere Kippen-Marke in die Hemdtasche. 

Camel, Printanzeige 1975: Meilenweit laufen, um zu kaufen.

Wenngleich sich die goldenen Jahren der Werbebranche in unserer Erinnerung etwas verklären, Produktloyalität von früherer Kompromisslosigkeit ist heute nur noch selten zu finden: weltweit hat eine alarmierende Anzahl an Marken ein handfestes Relevanzproblem. Erschreckende 80% aller Konsumenten wissen nichts, also wirklich nichts, über die Marke, die sie gerade gekauft haben.* Bei einer unüberschaubar großen Produktauswahl und digitalisierter Realität, in der jedes beliebige Produkt per Mausklick innerhalb von 24 Stunden an die Haustür geliefert wird, ist das auch erstmal kein Wunder. Moderne Verbraucher sind aber auch deutlich aufgeklärter als frühere Generationen, konsumieren bewußter und haben eigene Prioritäten und Werte entwickelt. Das erklärt, weshalb Schlagworte wie Customer Centricity, Mission Minded, CSR, PCSR und Lovebrand derzeit in aller Munde sind. In unserer krisengebeutelten Welt erfährt das Thema Brand Purpose seine erste echte Renaissance. Kaum eine Marke, die nicht gewillt ist, die Geschichte ihres gesellschaftlichen Mehrwerts zu erzählen. Gut so! Schließlich wollen 93% aller Verbraucher wissen, welchen Beitrag Unternehmen leisten, um die Welt ein Stückchen besser zu machen.** Dass sich eine Marke für Inklusion, Gleichberechtigung, Vielfalt oder Umweltschutz engagiert und damit politisch Stellung bezieht, wird heute nicht mehr nur akzeptiert, sondern als absolut angemessen und erstrebenswert betrachtet.
Warum aber bleiben die allermeisten unserer Marketingbemühungen trotzdem noch immer ohne gewünschten Effekt? Weshalb wäre es Konsumenten auf der ganzen Welt dennoch egal, wenn 77% aller Marken von heute auf morgen spurlos verschwänden?*

Schwarze Schafe und Trittbrettfahrer, die branchenunabhängig mit kleinen und großen Skandalen auffallen, mindern zweifellos das allgemeine Vertrauen – und es sind bedauerlicherweise nicht gerade wenige. Doch die Menschen sind mittlerweile sensibilisiert und haben ein feines Gespür dafür entwickelt, zu erkennen, wer Geschichten erzählt, die nicht echt sind oder weniger dem guten als dem Alibizweck dienen. Übeltäter, die ihren Worten keine Taten folgen lassen, entwickeln im Gegenzug ein wohlverdientes Glaubwürdigkeitsproblem. #greenwashing
Die Hauptgründe für die so selten gewordene Identität mit Marken sehe ich aber andernorts.

Grund 1: Die große Purpose-Inflation

Der eingangs erwähnte inflationäre Hype rund um das Thema Brand Purpose ist leider nicht ausschließlich positiv zu bewerten. Denn Hypes haben die Eigenschaft, Manager zu elektrisieren, was nicht selten zu einem oberflächlichen Umgang und hastig geschriebenen Repositioning Stories statt zu einer, dem aktuellen Zeitgeist angemessenen, ernstgemeinten Transformation führt. In Ermangelung der Erkenntnis, dass in den 20er Jahren ohne Haltung kein Geschäft mehr zu machen ist, wundert man sich über stagnierende, häufig gar fallende Relevanzwerte und trägt letzlich dazu bei, das Thema Purpose als Modeerscheinung zu entwerten. Ein in jeder Hinsicht folgenschweres Missverständnis, das allerdings vermieden oder (in den allermeisten Fällen) korrigiert werden kann. Kein Mensch läuft heute noch meilenweit für ein bestimmtes Markenprodukt, wie es notfalls auch mein Vater damals für seine Zigaretten getan hätte. Heute ist es umgekehrt: Geht die Marke keine Extrameile, um sich gesellschaftlich zu engagieren, rücken moderne Konsumenten in unerreichbare Ferne.

Patagonia, Digital Banner 2011: Meilenweit laufen, um nichts zu kaufen.

Grund 2: Rationale Messages für irrationale Empfänger

Einen zweiten Grund, weshalb sich die Leute heute so selten mit Marken identifizieren wollen, finde ich, ganz ohne danach suchen zu müssen. Mit einem Blick auf die aktuelle Kommunikationslandschaft wird offensichtlich, dass Marketing in vielen Fällen noch immer als »Message Making« verkannt wird. Wir aber sind im Geschäft des Storytelling.

Während wir unsere Botschaften von quantitativen Bedürfnisstudien logisch ableiten, sie entlang der Customer Journey mechanisch zuordnen und sie letztlich über Algorithmen maschinell in die Touchpoints streuen lassen, vergessen wir nur allzu gern, dass unsere Kunden keine Maschinen sind. Sie sind Menschen, die weder mechanisch funktionieren noch logisch auszurechnen sind. Wir Menschen sind zwar vornehmlich denkende Wesen, treffen unsere Entscheidungen aber dennoch selten mit vollem Verstand: Menschen rauchen Zigaretten, wählen die AfD, spielen Lotto, heiraten, essen Fast Food und machen sich Sorgen um die Lähmungserscheinungen ihres bemitleidenswert überzüchteten Dackels. Der Wunsch des Marketeers nach Eindeutigkeit und linearen Denkweisen ist fatal, da er die Natur des Menschen ausklammert. Die gesellschaftliche Realität erfordert stattdessen von Kommunikationsexperten, dass sie über ein hohes Maß an Ambiguitätstoleranz verfügen, jener Fähigkeit, menschliche Widersprüche und Mehrdeutigkeiten auszuhalten. Rationale Botschaften mögen verstanden werden, doch sind und bleiben es Emotionen, die Menschen zum Handeln bewegen.

Fazit: Konsumenten lassen sich von Gefühlen leiten. Doch das reine Wecken von Sehnsüchten wie Freiheit oder Abenteuer reicht schon lange nicht mehr aus, um Genussmittel oder andere Produkte abzusetzen. Denn moderne Konsumenten sind informierter als je zuvor, haben ihre eigenen Prioritäten und Wertekostüme entwickelt. Folglich wenden sie sich jenen Marken zu, die ihre Werte teilen und emotional zum Ausdruck bringen. Viele Unternehmen vergessen, dass es im Marketing nicht um Produkte oder Dienstleistungen geht, sondern darum, welche Gefühle die Haltung einer Marke auslöst und ob Menschen sich entscheiden, sie zu unterstützen, indem sie Teil ihrer Geschichte werden.

Storyteller Homo narrans

Seit Tausenden von Jahren versammelt sich unsere Spezies an Lagerfeuern, wo wir uns Geschichten erzählen, um Erfahrungen auszutauschen und voneinander zu lernen. Wenn auch ohne Lagerfeuer, gute, authentische Geschichten sind auch heute noch von ursprünglicher Kraft. Sie rühren uns im Kino zu Tränen, lassen uns jedes einzelne Wort im Roman aufsaugen oder bereiten uns schlaflose Nächte, bis wir endlich alle Episoden der neuen Netflix-Reihe weggesuchtet haben.
Auf dieselbe Weise kann smartes Storytelling aber auch Menschen mit unseren Markenwerten verbinden. Es kann sie berühren und dafür begeistern, an der Geschichte unserer Marke teilzuhaben und sie weiterzuerzählen. Der Purpose einer Marke kann noch so nobel sein, ohne strategisches Storytelling hätten selbst Marken wie Patagonia für wohl kaum jemanden Lovebrand-Status erreicht. Nur wenn sie sich verstanden fühlen und auf emotionaler Ebene mit den Angeboten einer Marke identifizieren können, werden Menschen zur treuen Kundschaft.

*Quelle: Havas, Meaningful Brands, 2019
**Quelle: Cone/Echo Global Corporate Responsibility Study