Story-Experiencing: Suli Kurban im Interview
Interview – Was wäre, wenn Sophie Scholl in den 40er Jahren ein Smartphone besessen hätte? Auf Instagram lassen SWR und BR die Widerstandskämpferin anlässlich ihres 100. Geburtstags wieder aufleben. Über den Kanal @ichbinsophiescholl können Abonnent:innen die letzten zehn Monate ihres Lebens so hautnah mitverfolgen, das man weniger von Storytelling als von Story-Experiencing sprechen möchte. Die Drehbuchautorin und Regisseurin Suli Kurban leitet die Social Media Redaktion dieses außergewöhnlichen Echtzeit-Projekts. Im Lichthof der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität spricht sie über Konzeption und Wirkung eines gehypten Experiments, das die Gesetze von Social Storytelling neu zu definieren scheint.
»In meinem Übermut oder meiner Dummheit habe ich den Fehler begangen, etwa 80 bis 100 solcher Flugblätter vom zweiten Stockwerk der Universität in den Lichthof herunterzuwerfen.« Am 18. Februar 1943 gibt Sophie Scholl der Gestapo ihr Geständnis zu Protokoll. Vier Tage später ist sie tot.
»An diesem Tag wird Sophie auch auf Instagram das letzte Mal posten«, erklärt Suli Kurban. Wir stehen an der Stelle, an der Sophie vor 78 Jahren mit einer einzigen unbedachten Handbewegung aufflog. »Über Stories, Reels und Fotos begleiten wir sie also fast ein ganzes Jahr lang.«
Es ist ein Marathonprojekt in einem Medium, das nach dem Prinzip Micro-Stories funktioniert. Doch Kurban ist bekannt für unkonventionelles Storytelling. Ihre Filme, Hybride und Snapchat-Serien treffen den Zeitgeist und erzählen Geschichten aus der Mitte der Gesellschaft.
Lars Bendels: Frau Kurban, ist Sophie Scholl eine Influencerin?
Suli Kurban: Nein. Sie würde nie sowas sagen wie: »Swipe up und hol Dir meinen neuen Rabattcode.« Generell spricht sie ihre Follower selten direkt an. Für Sophie ist Instagram ein offenes Tagebuch – eine Plattform, auf der sie ihre Gedanken und Gefühle teilen kann.
Bendels: In der Tat erhält man sehr intime Einblicke in die Gefühlswelt einer Frau, die zum Sinnbild des Widerstands geworden ist. Wie ist es gelungen, aus der historischen Figur einen nahbaren Charakter mit so viel Persönlichkeit zu entwickeln.
Kurban: Wir haben Biografien gelesen und mit Historiker:innen gesprochen, Sophies Briefe und Tagebücher durchgearbeitet. Darin hat sie große Teile ihrer Gedankenwelt aufgeschrieben, aus der wir heute schöpfen, uns in die Figur einfühlen und einen Charakter herausarbeiten konnten. Anschließend hat es Luna Wedler mit Tom Lass (Hauptdarstellerin und Regisseur, Anm. d. Red.) geschafft, durch ihr Spiel eine ganz eigene Note in die Figur hineinzubringen. So erzählen wir letztlich von einer jungen Frau, die sehr reflektiert und ihrer Zeit voraus ist. Die manchmal unsicher ist, innerlich zerrissen, die aber auch sehr viel Lebensfreude in sich trägt und kämpferisch ist.
Bendels: Sophie postet seit dem 4. Mai, jenem Tag, an dem für sie das Uni-Leben in München beginnt. Sie ist in den letzten zehn Monaten ihres Lebens vor allem Studentin und Widerstandskämpferin. Doch kurz zuvor war sie noch freiwillig im Bund Deutscher Mädel. Warum beginnt Sophies Blogger-Karriere nicht früher?
Kurban: Inhaltlich sind ihre früheren Lebensphasen aufgrund der Umbrüche hochinteressant. Doch irgendwo mussten Grenzen gesetzt werden, um im Rahmen der Produktionsmöglichkeiten zu bleiben.
Bendels: Ist es eine vergebene Chance, die rein subjektive Darstellungsweise nicht zu nutzen, ihre inneren Konflikte wiederzugeben und Richtungswechsel zu legitimieren?
Kurban: Wir sprechen Sophies BDM-Vergangenheit offen an, aber wir erleben sie nicht in Echtzeit mit. Als Filmemacherin würde mich dieser Wandel in ihrer charakterlichen Entwicklung fast noch mehr interessieren als das, was danach kommt. Andererseits erzählen wir jetzt eine nicht minder spannende Geschichte: Eine junge Frau aus dem beschaulichen Ulm kommt an die Uni der Großstadt München, wo sie als Ersti Leute des Widerstands kennenlernt. Und Aufbruchstimmung passt doch wirklich gut in die heutige Zeit.
Eine Figur ist erst interessant, wenn sie mehrere Seiten hat. Wenn sie nur gut oder böse ist, fehlen die ganzen Grautöne. Auch Sophie war als Studentin nicht plötzlich frei von Widersprüchen.
Bendels: Erzählmodelle wie die Heldenreise basieren auf wirkungsvollen Archetypen. Über viele Staffeln angelegte Serien teilen die Welt hingegen nicht mehr klar in gut oder böse, sondern setzen auf vielschichtige Charaktere und thematisieren deren Beweggründe. Zu welcher Kategorie zählt Ihr Projekt?
Kurban: Eine Figur ist erst interessant, wenn sie mehrere Seiten hat. Wenn sie nur gut oder böse ist, fehlen die ganzen Grautöne. Auch Sophie war ja als Studentin nicht plötzlich frei von Widersprüchen. Gesetzt den Fall, wir hätten den vorangegangenen Lebensabschnitt im BDM miterzählt, könnten wir bei @ichbinsophiescholl von einem Hybrid sprechen. Doch ohne diesen Wandel ist es keine Heldenreise.
Bendels: Welches Ziel verfolgt das Projekt?
Kurban: Die Geschichte der Weißen Rose wird aktuell wieder von verschiedenen Gruppierungen okkupiert und missbraucht. Das hat viel mit Unwissen zu tun. Viele Menschen wissen nicht mehr, für was Sophie Scholl stand: Sie verteidigte die Grundrechte, Demokratie und Meinungsfreiheit unabhängig von Religion, Geschlecht oder Herkunft. Wenn wir es schaffen, über ihre wahren Ideale aufzuklären und junge Leute neu zu inspirieren, dann haben wir viel gewonnen.
Bendels: Zu was wollen Sie inspirieren?
Kurban: Aufzustehen und nicht müde zu werden, auf Missstände hinzuweisen. Ich glaube, wir treffen da auf fruchtbaren Boden. Fridays for Future zeigt zum Beispiel eindrucksvoll, dass die jungen Generationen nicht so bequem sind wie andere. Die Leute sind bereit, für ihre Ideale auf die Straße zu gehen. Würde Sophie Scholl heute leben, wäre sie sicherlich stolz mitgelaufen.
Bendels: Zur Wahrheit gehört aber auch, dass der gewünschte Aufstand unter den Studenten ausblieb. Selbst die Hinrichtung der Geschwister hat daran nichts geändert, womit der Widerstand der Weißen Rose aus damaliger Sicht wirkungslos blieb. Ist das für junge Aktivisten nicht desillusionierend?
Kurban: Ich glaube, es geht weniger um die Mobilisierung eines Kollektivs als um die Inspiration des Einzelnen. Wenn man für sich als Person an den Punkt kommt, an dem man weiß, wofür man in seinem Leben stehen möchte, dann sind die zentralen Fragen doch: Was bin ich persönlich bereit, für meine Ideale zu geben? Und: Wie weit würde ich für meine Vision gehen? Inspirierend dabei ist, dass Sophie an diesem Punkt ausnahmslos alles gegeben hat, um für ihre persönliche Überzeugung zu kämpfen. Ich fände es schön, wenn unser Projekt für manch einen Anstoß wäre, selbst aktiv zu werden.
Bendels: Warum eignet sich unter all den sozialen Medien ausgerechnet Instagram, um jungen Menschen Geschichte zugänglich zu machen?
Kurban: Instagram steht am ehesten für Aktivismus. Die Stimmung dort ist positiver als in anderen Netzwerken. Deshalb ist es der Ort, an dem wir Sophies Geschichte neu erzählen wollen. Die Community ist jung, aber erwachsener als auf TikTok. Und handwerklich eignen sich die Insta-Tools einfach am besten, um all unsere Inhalte zu transportieren. Das erzählerische Potenzial ist riesig.
Bendels: Wie schöpfen Sie es aus?
Kurban: Am wichtigsten ist die Story-Funktion, über die wir in Echtzeit an Sophies Alltag teilhaben können. Auf IGTV senden wir Wochenrückblicke, damit neue Zuschauer:innen schnell in die Story finden. Wir unterhalten aber auch über kurze Reels und können über die Explorer-Seite Menschen außerhalb der eigenen Followerschaft erreichen.
Bendels: Sie sind bekannt für ihre Filme über sozialpolitische Themen, insbesondere Migration und Identität. Was treibt Sie an?
Kurban: Identität ist mein Lebensthema. Ich bin mit elf Jahren aus meiner Heimat geflohen (von China besetztes Uigurien, Anm. d. Red.). Heute darf ich Geschichten erzählen und dieses Privileg möchte ich nicht verschwenden. Also stelle ich Themen in den Vordergrund, die mich bewegen. Es gibt mir Seelenfrieden, mich auf diese Weise für die Gesellschaft einzusetzen.
Bendels: @ichbinsophiescholl ist eine fiktive Live-Schaltung in die NS-Vergangenheit. Wäre ein solches Projekt auch als Fenster in die heutige Unterdrückungspolitik Chinas denkbar?
Kurban: Absolut. Eine Geschichte über eine uigurische Widerstandskämpferin in einem Umerziehungslager würde ich sofort machen. Ich kann mir aber nur schwer vorstellen, dass ein solches Projekt realisierbar wäre.
Bendels: Weshalb?
Kurban: Leid, das in der Gegenwart stattfindet, wird oft verdrängt. Hinzu kommt, dass muslimische Uigur:innen keine Lobby haben. Zwangsarbeit, Zwangssterilisation – all das ist Realität, aber wir wollen nicht hinschauen. Wer weiß, warum. Vielleicht aus Angst, vielleicht aus Selbstschutz.
Bendels: Wie sind Sie zu dem Scholl-Projekt gekommen?
Kurban: In dem Fall ist das Projekt zu mir gekommen. Ein Produzent von Vice Media hatte mich angefragt. Ich brauchte allerdings ein paar Tage Bedenkzeit. Die Verantwortung, jeden Tag über die Inhalte des Kanals und deren Aufbereitung zu entscheiden, ist riesig. Alles, was die Menschen in den nächsten zehn Monaten über die Figur Sophie Scholl zu sehen kriegen, läuft über meinen Tisch. Den Druck habe ich von Anfang an gespürt und er wird durch den großen Erfolg nicht geringer. Ich habe zugesagt, weil das Thema so relevant ist und ich wusste, dass es auf Social Media funktionieren würde.
Bendels: Ganz offensichtlich, schon jetzt zählt der Account fast eine Millionen Abonnent:innen.
Kurban: Unsere Historikerin Frau Dr. Maren Gottschalk erzählte kürzlich, sie sei in vielen Schulen unterwegs gewesen und habe dabei auch über unser Projekt gesprochen. Sie konnte bestätigen, dass den Schülern:innen das Projekt deshalb so gut gefiel, weil es Geschichte erlebbar macht und spielerisch nahebringt. Wenn man das hört, dann weiß man, wofür man an diesem Projekt arbeitet.
Ich darf Geschichten erzählen und dieses Privileg möchte ich nicht verschwenden. Also stelle ich Themen in den Vordergrund, die mich bewegen. Es gibt mir Seelenfrieden, mich auf diese Weise für die Gesellschaft einzusetzen.
Bendels: Ein Leben auf dem Handydisplay darzustellen ist Ihnen bereits mit den Snapchat-Soaps Iam.Serafina und Iam.Meyra erfolgreich gelungen. Und doch, es gibt weniger komplexe Geschichten als die von Sophie Scholl. Gab es Bedenken, sich in Medium und Tonalität zu vergreifen?
Kurban: Ja, mit der Tonalität steht oder fällt so eine Serie. Wir mussten die Figuren entsprechend sorgfältig reproduzieren. Unsere Vorstellung von Sprache erforderte große Präzision, da sie Medium und Thema gerecht werden musste. Daran haben Luna und Tom intensiv gearbeitet. Wie bei Iam.Serafina einfach mal unbedarft mit der Kamera draufhalten, wäre hier undenkbar gewesen.
Bendels: Auf Instagram dominieren oberflächliche Unterhaltung und Selfie-Vermarktung. Ist die First-Person-Perspektive in Ihrem Fall Fluch oder Segen?
Kurban: Durch die subjektive Erzählweise, in der wir permanent die vierte Wand durchbrechen, sind wir deutlich näher an der Figur als würden wir nach den Regeln eines konventionellen Films spielen. So kann der Zuschauer eine deutlich emotionalere Bindung aufbauen, was in unserem Fall absolut gewollt ist. Die Ich-Perspektive eignet sich aber nicht für jedes Thema.
Bendels: Die FAZ kritisierte kürzlich, dass sich das Projekt nicht immer an historischen Fakten orientiere, obwohl seriöse Geschichtsvermittlung dies aber erfordere.
Kurban: Wir haben eine Menge Abonnent:innen. Da verstehe ich schon, dass jemand den Wunsch nach Geschichtsunterricht verspürt. Wir machen aber keinen Dokumentarfilm. Wir machen eine Social-Media-Serie, um junge Menschen wieder neugierig auf den Geschichtsunterricht zu machen. Wenn man keinen Bezug zu Instagram hat, ist das Konzept offenbar schwer zu verstehen.
Bendels: Helfen Sie doch auf die Sprünge.
Kurban: @ichbinsophiescholl kann und will den Geschichtsunterricht nicht ersetzen. Es soll als Begleitprogramm gesehen werden, als Anstoß zum Nachdenken. Wir erzählen Sophie Scholl als dramatisierte, fiktionalisierte Serie. Wir halten uns dabei an alle zur Verfügung stehenden Fakten, doch können wir nicht an allen Tagen auf exakte Überlieferungen zurückgreifen. Wie in einem historischen Kinofilm können Drama und Figuren deshalb niemals zu hundert Prozent mit der Vergangenheit übereinstimmen.
Bendels: Wie gelingt der Spagat zwischen Faktentreue und Fiktion?
Kurban: Wir haben das Glück, aus Tagebüchern und Briefwechseln sehr viele Hinweise auf Sophies Persönlichkeit und die Geschehnisse entnehmen zu können. Trotzdem beginnt irgendwann die Fiktion – und da kommt Storytelling ins Spiel. Wir setzen den dramaturgischen Bogen und überlegen uns, wie wir den roten Faden trotz historischer Lücken halten können. Weil dabei alles im faktisch korrekten Rahmen bleiben muss, haben wir mit Frau Dr. Gottschalk eine tolle Historikerin im Team. Mit ihr stimmen wir die Storyline ab.
Bendels: Für die jungen Generationen sind die sozialen Medien längst zur wichtigsten Informationsquelle geworden sind. Doch deren Feeds werden dominiert von Pop und Kommerz. Warum hat es so lange gedauert, bis Medienhäuser wie BR und SWR das erzählerische Potenzial von Instagram für nicht werbliches Infotainment nutzen?
Kurban: In anderen Ländern wurde Instagram ja bereits als Plattform für andere Inhalte entdeckt. Der Account eva.stories ist die ebenfalls historisch erzählte Geschichte eines jüdischen Mädchens, das deportiert wird. Die Serie ist großartig gemacht. Als ich sie zum ersten Mal sah, habe ich Gänsehaut bekommen.
Bendels: Jetzt steckt hinter dem nicht werblichen Content von eva.stories ja trotzdem eine Werbeagentur: Leo Burnett Israel.
Kurban: Das stimmt. Ich würde mir wünschen, dass auch die großen Medienhäuser künftig mutiger werden und sich vermehrt trauen, andere Formen des Storytelling auszuprobieren. Die jungen Menschen sind deutlich spielfreudiger als viele denken. In unserem Fall hat eine Redakteurin des SWR den Anstoß gegeben, die Story von Sophie Scholl auf Instagram zu bringen. Das ist ein großes Glück. In Deutschland ist so viel Zielgruppenverständnis wie ein Sechser im Lotto.
Geschichten, die so facettenreich sind wie die von Eva oder Sophie, bieten den Zuschauer:innen viele Gelegenheiten, eine emotionale Bindung herzustellen. Letztlich sind es die täglichen Einblicke, die uns Sophie über einen langen Zeitraum gewährt, die aus einer Erzählung ein Miterleben machen.
Bendels: Social Storytelling zeichnete sich bislang durch Micro Stories aus. Selbst die Geschichte der in Auschwitz ermordeten Eva Heymann erzählte Leo Burnett innerhalb von nur 24 Stunden. Mit dem zehnmonatigen Marathonprojekt konfrontieren Sie ihr Publikum mit dem Gegenteil von schnell erfassbaren Inhalten. Warum bleibt es trotzdem dran?
Kurban: Die Story macht den Unterschied. Leo Burnett hätte eva.stories auch über einen deutlich längeren Zeitraum erzählen können. Geschichten, die so facettenreich sind wie die von Eva oder Sophie, bieten den Zuschauer:innen viele Gelegenheiten, sich damit zu identifizieren und eine emotionale Bindung herzustellen. Letztlich sind es die täglichen Einblicke, die uns Sophie über einen langen Zeitraum gewährt, die aus einer Erzählung ein Miterleben machen.
Bendels: Welche Werbung hat Sie zuletzt überzeugt?
Kurban: In der Werbung wird es interessant, sobald nicht mehr das Produkt, sondern der Mensch im Mittelpunkt steht. Ich mochte zum Beispiel den Film von Nike, mit dem der erste Hijab für muslimische Sportlerinnen gelauncht wurde.
Bendels: Ist also Haltung der Schlüssel für zeitgemäße Werbung?
Kurban: Ja, das würde ich so sagen. Ohne die Vermittlung bestimmter Werte ist nicht klar, für was die Marke stehen will. Dann ist es keine Story, sondern Reklame. Haltung zu zeigen ist heute wichtiger denn je. Ich gehe da einkaufen, wo ich eine Idee davon habe, welche Ideale die Marke hat. Der Edeka-Film Lasst uns froh und bunter sein mit diesem älteren Herren, der ja eigentlich ein richtiger Grantler ist, ist auch ein gutes Beispiel.
Bendels: Mit einem Brand Purpose missionieren sich immer mehr Marken für Vielfalt, Inklusion, Gleichberechtigung, Umweltschutz oder andere Missstände und beziehen damit politisch Stellung. Wie blicken Sie auf diese Entwicklung?
Kurban: Marken müssen ja in die Gesellschaft passen und dazu gehört nun mal Engagement. Im Prinzip ist die Entwicklung also richtig, allerdings muss sie auch authentisch sein. Würde ich in einen Edeka laufen und bemerken, dass die Arbeitsbedingungen für das Personal grausig sind, würde ich mir einen neuen Supermarkt suchen.
Bendels: Sophie wird auf ihrem Instagram-Kanal Stellung zu aktuellen Themen wie der Bundestagswahl beziehen. Wie schlägt man solche Echtzeit-Brücken zwischen den Epochen, ohne an Authentizität zu verlieren?
Kurban: Als kürzlich Tag der Befreiung war, stand auf unserem Content-Plan, dass Sophie ein Foto von ihrem Schatzi Fritz postet und dazu schreibt, dass er gerade an der Front sei und sie ihn sehr vermisse. Uns war klar, dass wir die ursprüngliche Storyline hier verändern und sie mit dem Wissen der heutigen Zeit zusammenzubringen müssen. Wir können ja nicht am Tag der Befreiung ein Foto von einem Typen zeigen, der freiwillig in den Krieg gezogen ist und für die Nazis gekämpft hat. Uns liegen aber auch tolle Illustrationen von Édith Carron vor. Eine davon zeigt einen Kampfjet, der keine Bomben sondern Blumen niedergehen lässt. Das Bild haben wir dann genommen und darunter Sophies Wünsche für eine Welt ohne Nationalsozialismus geschrieben. Auf ähnliche Weise werden wir auch weiterhin Brücken zu wichtigen Ereignissen in der Gegenwart bauen.
Und dann setzt Du Dich hin und schreibst eine Story – keinen Content.
Bendels: Das Streben von Marken nach authentischem Storytelling steht häufig im Widerspruch zu strategisch konstruierten Geschichten. Wie lautet Ihr Rat für geskripteten Content?
Kurban: Weniger Vignetten-Spots, mehr individuelle Geschichten. Nur eine individuelle Geschichte hat die Macht, andere zu inspirieren. Menschen brauchen Menschen, mit denen sie sich identifizieren können. Den Zeitgeist treffen, bedeutet aufzuhören, in Schablonen und Stereotypen zu denken. Öfter mal raus in die echte Welt gehen und zuhören, welche Themen in der Gesellschaft brennen und sich fragen, warum das so ist. Und dann setzt Du Dich hin und schreibst eine Story – keinen Content.
Bendels: Wenn Sie sich eine historische Person wünschen könnten, die leibhaftig aus der Vergangenheit Instagram-Stories ins Hier und Jetzt postet. Wer wäre das?
Kurban: Ich hätte total Lust, Hannah Arendt auf Instagram zu erleben. Sie steht dafür, dass man nicht aufhören darf, selbst zu denken und seine Gedanken zu formulieren. Sie ist reflektiert, philosophisch, praktisch wie gemacht für Instagram. – Fuck, jetzt klaut bestimmt irgendjemand meine Idee! (lacht)