Fokusgruppe vs. Feldforschung
Ohne ausgezeichneten Insight keine ausgezeichnete Kampagne.
Sie geben mir sicher recht, wenn ich diese Behauptung in den Raum stelle und denken umgehend an Snickers (»You’re not you when you hungry«), Under Armour (»It’s what you do in the dark that puts you in the light«), Activia (»It starts inside«) oder andere beeindruckende Kampagnen.
Doch wie entstehen eigentlich starke Human Insights? Wie findet man Wahrheiten von solcher Gültigkeit? Durch qualitative Marktforschung?
Lassen Sie uns zusammen ein kleines Gedankenexperiment machen.
Wie jeden Tag kommen Sie abends von der Arbeit nach hause und öffnen die Haustür. Und wie jeden Tag gehen Sie als erstes die Post durch. Rechnungen, vielleicht eine Ansichtskarte von Freunden und… Moment mal, ein Einschreiben von der Polizei. Kann das sein? Sie legen den Stapel Umschläge beiseite, reißen das Einschreiben auf und lesen in großen Lettern: VORLADUNG
In dringender Ermittlungssache ist eine Vernehmung von Ihnen sowie von vier weiteren Personen erforderlich.
Sie werden daher gebeten, am Samstag um 10:30 Uhr im Kriminalfachdezernat Zimmer 211 vorzusprechen.
Bitte bringen Sie außer diesem Schreiben folgendes mit: Amtlicher Ausweis mit Lichtbild
Mit freundlichen Grüßen
Schwätzer, Kriminalhauptkommissar
Als Sie am Samstag quietschenden Schrittes über den Linoleumboden des Kriminalfachderzernats ins Vernehmungszimmer laufen ist zwar der Ärger verflogen, doch macht sich ein mulmiges Gefühl in Ihrer Magengegend breit. Sie sitzen mit vier Ihnen völlig fremden Personen in einem Stuhlkreis. Unsicher nicken Sie sich gegenseitig zu.
Um die fürchterliche Stille zu durchbrechen, deuten Sie auf die große Spiegelwand und bemerken: »Ist ja wie im Tatort hier.«
»Ich fühle mich hier eher wie im Zoo«, sagt die ältere Dame neben Ihnen. »Wer uns dahinter wohl alles beobachtet?«
Zurück zu unserem Experiment
Haben Sie sich in die Situation hineinversetzt? Gut! Dann lassen Sie uns jetzt drei minimale Begriffsänderungen an der Geschichte vornehmen. Wir ändern das Wort Vorladung zu Einladung, das Wort Kriminalfachdezernat zu Customer Research Institut und Kriminalhauptkommissar wird zu Moderator. Und – zack! – herzlich Willkommen in Ihrer Fokusgruppe!
Durch die Tür eilt ein Mann herein. Mitte vierzig, Dreitagebart, blauer Anzug, cognacfarbene Budapester. In der linken Hand ein Stapel Moderationskarten, mit der rechten zieht er scheppernd ein Flipboard hinter sich her.
»Ach, hinterm Spiegel, da sitzen bloß die Kollegen von der Werbeagentur« gibt er zu verstehen. »Die beobachten Ihr Verhalten, ignorieren Sie die am besten. Genauso wie die Kameras oben an der Decke, mit denen wir all ihre Antworten mitschneiden. Mein Name ist Schwätzer. Ich moderiere die heutige Befragung mittels der wir Sie – es wird großartig, glauben Sie mir – in kürzester Zeit ganz genau kennenlernen wollen. Schön, dass Sie alle hier sind. Aber nun sagen Sie doch endlich mal«, plappert es aus seinem Mund wasserfallartig weiter während er sich Ihnen zuwendet, »welche Gefühle haben Sie, wenn Sie an Pfefferminzschokolade denken?«
»Sie haben recht«, flüstern Sie der älteren Dame zu. »Wie im Zoo.«
Ob Vernehmungszimmer, Goldfischglas oder Zoo, die übersteigerten Vergleiche kommen nicht von ungefähr. Denn in einer derart unnatürlichen Umgebung Vertrauen zu fassen, und das innerhalb von nur wenigen Stunden, ist selten möglich. Fokusgruppen, diese Richtigstellung sei mir nach einem solch überzeichneten Gedankenspiel erlaubt, nehmen im modernen Marketing natürlich trotzdem eine wichtige Rolle ein. So wie wir Stereotypen und Daten nutzen, um Annahmen über unsere Zielgruppen zu treffen, eigenen sich Gruppendiskussionen bestens für qualitative Bewertungen und Adjustierungen. Aber um neue, wirklich inspirierende Human Insights aufzudecken, ist es ratsam, zu deutlich qualitativeren Methoden zu greifen – was mit der Erkenntnis beginnt, dass wir unsere Scheuklappen abnehmen und anfangen sollten, die Welt durch die Augen jener Menschen zu sehen, die wir Zielgruppe nennen. Wenn wir eine Chance darauf haben wollen, dass sich Menschen uns gegenüber öffnen, müssen wir ihnen in einem Umfeld begegnen, in dem sie sich pudelwohl fühlen: ihrem eigenen.
Kevin Roberts: »If you want to understand how a tiger hunts, don’t go to the zoo, go to the jungle.«
Soziologen sprechen von einer »aktiv teilnehmenden Beobachtung«. Ich nenne es Real Life Explorations und halte es mit dem Feldforschungsziel Insight wie Kevin Drew Davis*: »The best way I can describe Insight is to give you an example of the difference between a Fact, an Observation and an Insight.
Fact: People tend to feed their pets twice a day.
Observation: They tend to feed them at breakfast and dinner time.
Insight: People feel guilty eating in front of their pets.«
Ob im Elektroauto mit dem Manager auf dem Weg zur Arbeit, mit der Großfamilie an Black Friday auf Shopping Tour, beim Windelnwechseln von Drillingen oder mit dem Outdoor Freak und seiner Action Cam knietief in einem seiner waghalsigen Abenteuer – Real Life Explorations bedeuten, über einen bestimmten Zeitraum das alltägliche Leben mit der Zielgruppe zu teilen.
Auch wenn sich in meiner Erfahrung Feldforschung in Form von Real Life Explorations als besonders erfolgsversprechend herausgestellt hat: Es gibt selbstverständlich nicht nur einen, sondern viele verschiedene Wege, inspirierende Human Insights aufzudecken.
Drei Dinge sollten dabei jedoch nicht in Vergessenheit geraten:
- Das ambitionierte Ziel heißt nicht Observation.
- Es gibt qualitativere Forschungsmethoden als Fokusgruppen.
- Die wichtigste Faustregel: 10% der Wahrheit wissen wir. Von weiteren 10% der Wahrheit wissen wir, dass wir sie nicht wissen. Und von 80% der Wahrheit wissen wir noch gar nicht, dass wir sie nicht wissen.
*ehem. CCO von DDB, später auch Wunderman, in Kanada bzw. USA