Fallstricke des Storytelling
Seit er über die Sprache verfügt, gehört das Erzählen von Geschichten zum Menschen. Laut einem meiner Professoren aus der Journalistenschule liegt das vor allem an der Eigenschaft, dass Geschichten scheinbar zusammenhanglose Informationen in »kausal-chronologische Kontinuen betten, die unserer natürlichen Wahrnehmung entsprechen.« So lassen sich auf anschauliche Weise Erfahrungen austauschen.
Ebenso alt wie die Sprache ist das menschliche Bestreben, in unseren Erlebnissen und unserer Umwelt Sinn und Bedeutung zu suchen. Eine Studie* der Harvard Business Review bestätigt, dass Purpose-Initiativen 90% der befragten Mitarbeiter stolz auf sich und ihr Unternehmen mache und die Identifikation mit ihrem Arbeitgeber erhöhe. In einer anderen Umfrage** geben 51% der Arbeitnehmer an, sie würden gar einen schlechter bezahlten Job annehmen, wenn dieser ihrem Tun mehr Bedeutung verleihen würde als der aktuelle.
Geschichten konstruieren Zusammenhänge
Die wichtigste Möglichkeit der Sinngebung besteht im Erzählen von Geschichten. So ausgefeilt der Purpose auf dem Strategiepapier auch sein mag, ohne Storytelling wird er sich nicht zum Leben erwecken lassen. Erst durch die erzählerische Konstruktion kausaler Zusammenhänge kann Purpose verstanden und erinnert werden. »Oder was glauben Sie«, fragt uns der Professor, »warum Gedächtniskünstler zusammenhanglose, abstrakte Fakten mit Bildern besetzen und sich dann als erdachte Geschichte einprägen?«
Mit abstrakten Strategien und rationalen Fakten macht Storytelling genau zwei Dinge: personalisieren und emotionalisieren. Im Ergebnis wird anderen Menschen ermöglicht, Anteilnahme zu zeigen, Orientierung und Sinn zu finden sowie die empfangenen Informationen zu erinnern.
Storytelling birgt Fallstricke
Auf unterschiedlichsten Ebenen birgt Storytelling aber auch Gefahren und Fallstricke. So sind Erzählungen an sich nie wertfrei. Schon allein durch die Wahl der Protagonisten und der Perspektive werden Entscheidungen aus einer Vielzahl möglicher Sichtweisen getroffen. Darüber hinaus führt das Herunterbrechen auf die unmittelbare Ebene der Story oft zur Banalisierung bzw. Über-Vereinfachung.
Letzteres wird in der Markenkommunikation besonders problematisch, wenn Handlungen nicht mehr motiviert, sondern nur noch präsentiert werden. Da der Brand Purpose aber zum Ausdruck bringen möchte, warum eine Marke eine bestimmte Handlung einnimmt, reicht die bloße Ergebnispräsentation nicht aus, um ihn nachhaltig zu aktivieren. Ein plakatives Beispiel hierfür ist Netflix. Statt zu zeigen, was ein Protagonist macht, drehen sich Netflix-Produktionen um die spannende Frage, warum ein Charakter bestimmte Dinge tut. Im Mittelpunkt der Erzählung steht die Nachvollziehbarkeit seiner Handlungen. (vgl. Netflix: Wieso, Weshalb, Warum)
Werbliches Storytelling wird auch dann zum Problem, wenn gar keine Geschichte mehr erzählt wird, sondern nur noch Höhepunkte gezeigt werden. Während wir uns keinen Kinofilm ohne Prämisse vorstellen können, der Drama und Konflikt einfach aussparen und uns nichts über die Motivation des Protagonisten verraten würde, also nur aus zusammenhanglosen Höhepunkten bestünde, sind Vignettenfilme in der Werbung noch immer gang und gäbe.
Strategisches Storytelling
In der eigenen Markenkommunikation könnten derlei Belanglosigkeiten ganz einfach vermieden werden, wenn jedes Agentur- oder Produktionsbriefing aus der Purpose-Strategie abgeleitet wäre. Dazu müsste die Strategie natürlich von allen beteiligten Partnern vollumfänglich verstanden werden – was wiederum voraussetzt, dass sie nicht abstrakt und rational formuliert ist. Genau hier baut strategisches Storytelling die fehlende Brücke. Wer seine Strategie-Präsentation in eine spannende Repositioning Story übersetzt, kann Kreative inspirieren und Sinngebung ermöglichen.
*Quelle: Harvard Business Review 2015 | **Quelle: Kelly Global Workforce Index 2009