Netflix: Wieso, Weshalb, Warum
Am 24. März 1997 räumt Der Englische Patient des britischen Regisseurs und Drehbuchautoren Anthony Minghella neun Oscars ab. Mit den zahlreichen Academy Awards wird das zweieinhalb Stunden lange Drama unter anderem als bester Film mit der besten Regieleistung gewürdigt. Doch im Shrine Auditorium in Los Angeles dominiert noch ein anderes Thema die Gespräche auf der After-Show Party: Am heutigen Vormittag wurde in den USA ein neues Trägermedium für Spielfilme eingeführt. Auf der Suche nach einem digitalen Nachfolger der VHS-Kassette konnten Vorgängermodelle wie die Video-CD (VCD) oder die übergroße Laserdisc (LD) nicht überzeugen. Aber die heute landesweit zugelassene Digital Video Disc, kurz DVD, beflügelt die Fantasie der Filmindustrie. Sie sieht aus wie eine Musik-CD, verfügt aber über eine nie dagewesene Menge an Speicherkapazität.
Während in LA die Champagnerkorken knallen, schmieden die beiden Unternehmer Marc Randolph und Reed Hastings im 340 Meilen weiter nördlich gelegenen Los Gatos einen Business Plan, der das Filmgeschäft weltweit auf den Kopf stellen wird. Noch im August desselben Jahres ist es soweit: Randolph und Hastings gründen ihre Online-Videothek für den postalischen Versand und Verleih von DVDs.
Es gab sie tatsächlich, die Zeit, in der das Wort Streaming noch nicht existierte.
Hatte man in den 2000er Jahren einen Film im Kino verpasst, blieb einem nichts anders übrig als zu warten, bis er irgendwann auf DVD erschien oder im Programmheft des linearen Fernsehens auftauchte. Mit der liebsten TV-Serie verhielt es sich ganz ähnlich. Bis zur nächsten Folge musste man sich eine ganze Woche lang gedulden, die Ausstrahlung der nächsten Staffel ließ nicht selten ein komplettes Jahr auf sich warten. Binge-Watching ist noch so ein Wort, dass es vorher nicht gab. Vorher? Ja, vor was denn eigentlich? Na bevor Randolph und Hastings im August 1997 ihren DVD-Verleih gründeten – und ihn auf den Namen Netflix tauften.
Netflix, eine Verschmelzung der Worte Internet und Flicks, was so viel bedeutet wie »Internetfilmchen«, erwarb 2010 für eine Milliarde US-Dollar die Rechte am Onlinevertrieb der Produktionen von Paramount Pictures, Lions Gate Entertainment und Metro-Goldwyn-Mayer. Der Börsenwert der ehemaligen Kleinstadt-Videothek übertraf 2020 als das wichtigste Streaming-Unternehmen der Filmwirtschaft erstmals die Marktkapitalisierung von Walt Disney.
Die Gründungsgeschichte von Netflix ist eine wahre Heldenreise. Doch von Heldenreise will Netflix selbst gar nichts wissen. Zumindest dann nicht, wenn es um das Erzählformat der eigenen Serienproduktionen geht. Denn die Heldenreise, bis dato das Schema F des Storytelling, eignet sich offensichtlich nicht, um den modernen Zuschauer über zig Staffeln an ein und dieselbe Geschichte zu fesseln. So gibt es wohl nichts und niemanden, der Storytelling in den letzten Jahren signifikanter verändert hätte, als Netflix.
Sie möchten an dieser Stelle sicherlich gern ergänzt wissen, dass Netflix ja auch die Art der Bezahlung, Distribution, eigentlich das ganze Businessmodell im Filmgeschäft verändert hat. Und das stimmt! Aber das Storytelling trägt in ganz entscheidender Binge-Watching-Manier zum beispiellosen Unternehmenserfolg des Streaming-Anbieters bei. Denn dass wir Zuschauer dranbleiben, einen Serienmarathon nach dem anderen hinlegen, ganze Wochenenden vor der Glotze verbringen, wird erst durch die Art und Weise ermöglicht, wie bei Netflix Geschichten erzählt werden. Fürs eigene Content-Marketing will ich mit Ihnen zwei Ableitungen teilen, was Marken von Netflix lernen können.
1.) Ambiguitätstoleranz – die Menschwerdung der Superhelden
Ich habe dieses sperrige Wort schon in einem älteren Blogbeitrag verwendet. Sehen Sie es mir nach, denn Netflix nutzt die hohe Ambiguitätstoleranz seiner Abonnenten für authentisches, identitätsstiftendes Storytelling. Netflix setzt darauf, dass Zuschauer in der Lage sind, Ambiguitäten, also Widersprüchlichkeiten, wahrzunehmen, ohne diese einseitig negativ oder positiv zu beurteilen. Das ist deshalb nötig, weil in den Serien kaum mehr klassische Heldenreisen stattfinden, in denen die Rollen zwischen Gut und Böse klar verteilt wären. Statt Helden zu zeigen, zeigt Netflix Menschen. Im Mittelpunkt stehen Charaktere, die sich entwickeln, die mal gut, mal böse sind, eingebettet in eine Story, deren Happy End so unvorhersehbar ist wie das echte Leben und deshalb auch nicht selten einfach ausbleibt.
Alltagshelden statt Superhelden. Während sich bei Netflix jede aktuell erfolgreiche Serie als Referenz für dieses Storytelling-Prinzip heranziehen lässt, kann man es in der Werbung zum Beispiel in der 2020 angelaufenen Intersport-Kampagne von We Are Pi eindrucksvoll bestaunen. Mit der internationalen Kampagne The Heart of Sport positioniert die holländische Kreativschmiede den schweizer Sporthändler als lokalen Sparringpartner.
2.) Wieso, Weshalb, Warum
Bis zu dem Tag, an dem ich Breaking Bad eine Chance gegeben habe, war ich alles andere als ein Serienjunkie. Und dann, einmal infiziert, waren die fünf Staffeln in fünf Sofasitzungen weggesuchtet. Nach Ende der letzten Staffel habe ich nochmal für ein paar Minuten in den Anfang der allerersten Folge reingeguckt. Ich habe die Hauptfigur Walter White trotz fünf Staffeln intensiven Kennenlernens kaum wiedererkannt. So menschlich nachvollziehbar – und wohl genau deshalb so subtil – vollzog sich seine charakterliche Entwicklung. Statt zu zeigen, was ein Protagonist macht, drehen sich Netflix-Produktionen um die spannende Frage, warum ein Charakter bestimmte Dinge tut. Nicht der Plot, sondern die Persönlichkeit eines Menschen und die Nachvollziehbarkeit seiner Handlungen stehen im Mittelpunkt der Erzählung.
Wollen wir in unserer Markenführung ebenfalls ein authentisches Warum formulieren, kommen wir an der Entwicklung eines Brand Purpose nicht vorbei. Langfristig angelegtes Storytelling, das einer Marke Charakter, Tiefe und Mehrwert verleiht, braucht ein sinnstiftendes Wofür – sozusagen ein vorwärtsgewandtes Warum. Andernfalls gerät es mangels Relevanz rasch in Vergessenheit.
PS: Die aktuelle Netflix-Kampagne One Story Away von AKQA, in der Sequenzen aus zahlreichen Eigenproduktionen gezeigt werden, spiegelt den Fokus aufs Warum perfekt wieder (und ist darüberhinaus eine auf allen Ebenen sensationell starke Kreation).