Multitasking und andere Seuchen

Unterm Strich muss ich sagen, ich mochte die 90er Jahre. Sie brachten Personalausweis, Clearasil und Rummachen in mein Leben, womit mein Dasein zum allerersten Mal Sinn erfuhr.
Und doch lässt sich über die 90er Jahre nicht nur in goldener Tinte schreiben. Denn sie hatten auch eine dunkle Kehrseite. Eine, die der kulturellen Welt schonungslos Unzumutbares zumutete, die ihr irreparabel scheinende Schäden zufügte. Britney Spears, die Diddl-Maus-Plage, aber auch Arschgeweihe, die noch 30 Jahre später wie poröse Mahnmale an millionenfache Geschmacksverfehlungen früherer Epochen erinnern, gehen aufs Konto ebenjenen Jahrzehnts.

»Concentrate all your thoughts upon the work at hand, the sun’s rays do not burn until brought to a focus.«
–Alexander Graham Bell

Irgendwann in den 90er Jahren tauchte in der Wirtschafts- und Geschäftswelt noch eine ganz andere Unzumutbarkeit auf. Es handelte sich um eine Arbeitweise von entsetzlicher Oberflächlichkeit, die man auf den Begriff »Multitasking« taufte und in beispielloser Geschwindigkeit zum Must-have Skill eines jeden aufstrebendes Managers etablierte. Euphemistisch betrachtet bedeutet Multitasking, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun. Auf E-Mails antworten, während man auf dem Klo sitzt. Telefonieren, während man Spesenabrechnungen macht. Mittagessen, während man Präsentationen hält. Multitasking erfordert eine gewisse kognitive Fähigkeit, und diese Fähigkeit wird als »Simultankapazität« bezeichnet.
Indes stellten Psychologen und Hirnforscher immer häufiger in Frage, ob das menschliche Gehirn im Allgemeinen überhaupt in der Lage ist, zwei Gedanken gleichzeitig zu denken. Mein (männliches) Gehirn, und das kann ich mit Sicherheit sagen, hat definitiv null simultane Fähigkeiten. Da kommt meinem Selbstwertgefühl die heutige Sicht der Wissenschaftler mehr als gelegen: Simultanarbeit ist gar nicht wirklich möglich, da das menschliche Gehirn im Multitasking-Mode dazu neigt, sehr schnell den Fokus zu verlieren.
So gesehen wird Multitasking zum Synonym für mangelhafte Konzentration und Oberflächlichkeit – und zum Gegenteil von Vertiefung.

Multitaskerin Peggy Bundy (Katey Sagal)

Mehrfachaufgabenperformanz – die tückische Volkskrankheit

Doch den aufstrebenden Junior Manager der 20er Jahre kümmert das Geplapper der Professoren herzlich wenig, was im Ergebnis zu einer Alltagsrealität führt, in der unzählige Menschen unzählige Dinge tun, aber niemand irgendetwas richtig und gründlich erledigt. Eine wilde Jonglage mit immer mehr Bällen. Da wird durchs Backlog gewirbelt bis auch das letzte To Do in der Luft hängt. Übrigens, dieses symptomatische Gewusel erinnert nicht nur stark an irgendeine ADHS-verwandte, psychische Erkrankung, es klingt im Deutschen auch so: laut Duden leiden Multitasker an der sogenannten »Mehrfachaufgabenperformanz«. Es fällt mir daher nicht schwer, mich heute als Unitasker zu outen. Im Gegenteil, ich tue es aus voller Überzeugung, immer und immer wieder, denn ich halte Multitasking in der Arbeitswelt für überbewertet und nutzlos.

Zugegeben, für mein eigenes Coming Out als Unitasker habe ich ebenfalls deutlich länger gebraucht, als für die Entwicklung vom Junior- zum Seniorberater. Ich will mal so sagen, man wächst ja mit seiner Verantwortung – quasi kongruent zu seinen KPIs. Und je direkter die Verantwortung dafür, dass Markeninhalte auch auf Resonanz treffen, desto größer das Bedürfnis nach Konzentration und Fokus, und desto vehementer die innere Abkehr vom Multitasking.

Lassen Sie uns als Markenverantwortliche, als die wir uns Customer Centricity und Purpose statt aus der Hüfte geschossener Reklame auf die Fahnen geschrieben haben, dazu beitragen, den Fokus wiederzufinden – die volle Konzentration aufs Wesentliche, die es braucht, wenn man hinter das Wertekostüm von Menschen schauen und echte Mehrwerte beitragen will. Zugunsten der Qualität und zum Wohle der Allgemeinheit: Lassen Sie uns der widerstandsfähigsten aller 90er Jahre Seuchen gemeinsam den Garaus machen, sie mit der Macht unserer Vorstellungskraft vertreiben, indem wir uns fragen, wie er wohl damals geschmeckt haben wird, der Salat von Peggy Bundy.