Unfuck Brand Purpose: Den eigenen Daseinszweck richtig aktivieren

Essay – Purpose Marketing liegt schwer im Trend. Gut so! Allerdings haben Hypes auch die Eigenschaft, Manager zu elektrisieren, was nicht selten zu einem oberflächlichen Umgang und hastig geschriebenen Repositioning Stories führt. Kann das gut gehen? Die Antwort ist: nein.
Für das Fachmagazin New Business (18/2021) habe ich zusammengefasst, weshalb strategisches Storytelling unerlässlich ist, wenn man seinen Brand Purpose richtig aktivieren und Haltung spürbar machen will.

Ich stand vor weniger komplexen Aufgaben als der aktuellen: Europas größten Elektronikhändler von einer rationalen Preisführerschaftsmarke zu einer emotionalen, zweckgerichteten Purpose Brand transformieren. Aktuell befinden wir uns bei MediaMarkt auf der ersten Meile einer langen Reise. Zeit, sich mit dem Terrain vertraut zu machen und einen Blick in den Rucksack zu werfen.
80% aller Konsumenten wissen nichts über die Marken, deren Produkte sie gekauft haben. Es würde sie nicht einmal kümmern, wenn sich 77% aller heute existierenden Marken in Luft auflösten, auf Nimmerwiedersehen verschwänden, ersatzlos in den Boden der Bedeutungslosigkeit eingestapft würden. Die Ergebnisse der Meaningful Brands Studie (Havas) schrecken auf. Eine alarmierende Anzahl an Unternehmen bewegt sich in stabiler Belanglosigkeit raus aus dem Relevant Set ihrer Zielgruppen.
Dabei ist es wahrlich kein Geheimnis, was Menschen an Unternehmen und ihren Marken vermissen, um sich gegenwärtig mit ihnen identifizieren zu können. In der krisengebeutelten Realität der 20er Jahre sind 56% der von Edelman befragten Menschen der festen Überzeugung, dass der Kapitalismus mehr Schaden als Nutzen anrichtet. Weltweit gar 93% aller Verbraucher wollen wissen, welchen Beitrag Unternehmen leisten, um die Welt ein Stückchen besser zu machen. Den Menschen geht es also um Sinnstiftung. Um Haltung und Charakter, um Werte, Verantwortung und Engagement. Es geht ihnen um Maßnahmen, die gerne wirtschaftlichen, aber simultan eben auch gemeinnützigen Wert schöpfen. Anders ausgedrückt geht es modernen Konsumenten um nichts Geringeres als ums Wofür. Sie fordern einen Berechtigungsnachweis für die Existenz einer Marke in der kapitalistischen Transformation unserer Zeit. Wir Werbetreibende meinen dasselbe, nennen es aber lieber Purpose.

Schönfärberei droht Purpose als Modeerscheinung zu entwerten. Gut, dass moderne Konsumenten ein feines Gespür für Trittbrettfahrer entwickelt haben.

Das Mittel zum guten Zweck: Strategisches Storytelling

Den berühmten Vier Ps (Product, Price, Place und Promotion) haben Kommunikationsexperten mit dem Purpose ein fünftes Instrument hinzugefügt. Und das aus gutem Grund. Dass sich eine Marke für Inklusion, Gleichberechtigung, Vielfalt oder Umweltschutz missioniert, und damit politisch Stellung bezieht, wird heute nicht mehr nur akzeptiert, sondern als absolut angemessen und erstrebenswert betrachtet. Die gute Nachricht ist, es gibt wohl kaum noch ein Unternehmen, das sich vor diesem Hintergrund nicht bereits in irgendeiner Weise auf die Suche nach einer sinnenhaften, zweckgerichteten Rolle im Leben seiner Konsumenten begeben hätte. Purpose ist in aller Marken Munde. Gut so! Umso mehr zwängt sich die Frage auf, warum die Bemühungen Werbetreibender rund um das Thema Purpose Marketing trotzdem häufig ohne den gewünschten Relevanz-Effekt bleiben. Ein Blick auf die aktuelle Kommunikationslandschaft indiziert, dass allzu viele Marken das Mittel zum guten Zweck verkennen: strategisches Storytelling.

Die Menge an täglich auf uns einprasselnden Werbebotschaften nimmt unaufhörlich zu. Entsprechend wenig überraschend die Diagnose: Werbeblindheit tritt bereits ab einer Menge von 3.000 Botschaften am Tag ein. Aktuell gehen Fachleute jedoch davon aus, dass jeder von uns sogar mit 10.000 bis 13.000 Werbebotschaften konfrontiert wird. Wie gesagt, am Tag. Dazu kongruent verwandelt sich die Aufmerksamkeit überadressierter Empfänger in nur noch periphere, immer abgestumpftere Sinneswahrnehmungen. Sehen potentielle Konsumenten den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr, drohen auch uneigennützigste Werbebotschaften in der Lautstärke des Wimmelbilds zu verstummen. Da ungehörte Kommunikation weder einen guten, noch irgendeinen Beitrag leistet, kann von Return on Investment wohl kaum mehr eine Rede sein. Die deutlich Sinn-vollere Kennzahl lautet Return on Purpose. Ein relevanter Brand Purpose maximiert nachweislich Markenrelevanz und Geschäftserfolg. Allerdings nur dann, wenn er in- und extern richtig aktiviert wird. Blicken wir hierfür also endlich in den Rucksack. Das Transformationsgepäck besteht aus einer purpose-goldenen Wertschöpfungskette für strategische Narrative. An ihr funkeln vier Glieder: Storyframing, Storydoing, Storytelling und Storysharing.

i) Storyframing gegen Purpose-Inflation

Ein Brand Purpose ergibt nur dann Sinn, wenn die Geschichte, die er über eine Marke erzählen soll, wahr ist. So weit, so banal. Doch für einen glaubwürdigen, weil authentischen Purpose müssen die richtigen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Der Begriff Storyframing steht in diesem Zusammenhang für alle internen Maßnahmen, die Führungskräfte einzuleiten haben, um den Purpose tief in Markenkern sowie in Ausrichtung und Kultur der Organisation zu verwurzeln. Es geht um die Erforschung der eigenen DNA, um das Finden der Geschichte, auf der eine authentische Markenidentität aufbaut. Was würde die Welt vermissen, wenn es meine Marke nicht mehr gäbe? Mit Hilfe einer konsequenten Story-first-Perspektive neue Antworten fürs eigene Wofür zu finden, den strategischen Mutterboden zu bereiten und sicherzustellen, dass neue Narrative ganzheitlich verinnerlicht werden, ist im allgemeinen Purpose-Hype von außerordentlicher Wichtigkeit. Denn Hypes haben die Eigenschaft, Manager zu elektrisieren. Nicht anders verhält es sich gegenwärtig mit dem Thema Brand Purpose, was nicht selten zu hastig geschriebenen Repositioning Stories, statt zu einem, dem aktuellen Zeitgeist angemessenen, ernstgemeinten Paradigmenwechsel führt. In Ermangelung der Erkenntnis, dass ohne Haltung kein Geschäft mehr mit werteorientierten Konsumenten zu machen ist, wundert sich so manches Management über stagnierende, häufig gar fallende Relevanzwerte und trägt letztlich dazu bei, das Thema Purpose als Modeerscheinung zu entwerten.

ii) Storydoing – Unfuck Brand Purpose

Moderne Verbraucher sind deutlich aufgeklärter als frühere Generationen. Sie konsumieren bewusster und haben eigene Prioritäten und Werte entwickelt. Dass sich der Kapitalismus in einer beispiellosen Transformation befindet, ist in weiten Teilen ihrem überaus sensiblen Gespür für Green- und Purpose-Washing zu verdanken. Top of mind, back of mind, out of mind – nie zuvor fielen der Schönfärberei entlarvte Marken kompromissloser in Ungnade des Verbrauchers. Wie man das vermeidet? Ganz einfach, indem man seinen Konsumenten keinen Quatsch erzählt.
Erst machen, dann schnacken. Storydoing steht für genau diese Reihenfolge, die einzuhalten leider noch immer keine Selbstverständlichkeit zu sein scheint. Wie im eigenen Privatleben steht auch in einer zeitgemäßen Beziehung zur Kundschaft das Geben vor dem Nehmen und bedingt sich gegenseitig. Bevor Markenloyalität als Gegenleistung erwartet werden kann, sollte der eigene Beitrag in der Gesellschaft erlebbar gemacht worden sein.
Wohlverdiente Glaubwürdigkeitsprobleme ernten hingegen alle, die in ihrer Kommunikation mit hastig konstruierten Purpose-Statements herumwerkeln. Schnell die Agentur briefen, kurz nachdem sich die Menschen abgewandt haben, funktioniert nicht. Purpose ist in den Phasen Storyframing und Storydoing Aufgabe der Geschäftsführung und des Vorstands. Sie müssen die Organisation adjustiert und neu auf die Werte der Menschen und ihre wahren Bedürfnisse ausgerichtet haben bevor Marketing das Ruder in der Phase des Storytelling übernehmen kann.

iii) Storytelling vs. Message Making

10.000 bis 13.000 mal werden wir am Tag mit einem der Hauptgründe konfrontiert, weshalb sich Verbraucher heute so selten mit Marken identifizieren wollen. Werbeblindheit entsteht, weil Marketing in abertausenden Fällen noch immer als Message Making verkannt wird. Wir Markenverantwortliche aber sind im Geschäft des Storytelling.
Während wir unsere Botschaften von quantitativen Bedürfnisstudien logisch ableiten, sie entlang der Customer Journey mechanisch zuordnen und sie letztlich über Algorithmen maschinell in die Touchpoints streuen lassen, vergessen wir nur allzu gern, dass unsere Kunden keine Maschinen sind. Sie sind Menschen, die weder mechanisch funktionieren noch logisch auszurechnen sind. Wir Menschen sind zwar vornehmlich denkende Wesen, treffen unsere Entscheidungen aber dennoch selten mit vollem Verstand: Menschen rauchen Zigaretten, wählen die AfD, spielen Lotto, heiraten, essen Fast Food und machen sich Sorgen um die Lähmungserscheinungen ihres bemitleidenswert überzüchteten Dackels. Der Wunsch des Marketeers nach Eindeutigkeit und linearen Denkweisen ist fatal, da er die Natur des Menschen ausklammert. Die gesellschaftliche Realität verlangt von Kommunikationsexperten, dass sie über ein hohes Maß an Ambiguitätstoleranz verfügen, jener Fähigkeit, menschliche Widersprüche und Mehrdeutigkeiten auszuhalten. Rationale Botschaften mögen zwar verstanden werden, doch sind und bleiben es Emotionen, die das Handeln der Menschen bestimmen.
Erfolgreiche Marken nutzen ihre Reichweite, um emotional einen Daseinszweck zum Ausdruck zu bringen, der jenseits eigennütziger Wachstumsziele stattfindet. Man denke an Unite the world through sport to create a healthy planet (Nike), Open all eyes for the beauty of uniqueness (Douglas), Create a world where anyone can belong anywhere (Airbnb), Connect People (Heineken) und natürlich an We’re in business to save our home planet (Patagonia). Auf der Website larsbendels.com finden Sie viele weitere Beispiele und Belege, dass es im Marketing nicht um Produkte oder Dienstleistungen geht, sondern darum, welche Gefühle die Haltung einer Marke auslöst und ob Menschen sich entscheiden, deren Mission zu unterstützen, indem sie Teil ihrer Geschichte werden.

iv) Storysharing – Service für mehr Reichweite

Um es Patagonia gleichzutun und mit Haltung eine Bewegung zu entfachen, bedarf es nicht zwingend einer Galionsfigur wie Yvon Chouinard. Die Befragung Werbelieblinge zeigt, dass ein holistisch aktivierter Purpose auch ohne Umweltaktivisten als CEO wirkt. Für mehr als 16.000 Befragte ist Haltung einer der wichtigsten Faktoren für Werbung, die sie bewegt. 26,1% der Werbelieblinge zeichnen sich durch Purpose aus. Dieser Anteil stieg im Lockdown nochmals um mehr als 5 Prozentpunkte – so stark wie kein anderer Faktor. »Haltung ist nicht nur spannend, sie geht für die Menschen auch weit über reine Nachhaltigkeitsthemen hinaus«, betont Dr. Gordon Euchler, Initiator der Studie. »Wie bei Edeka zeigt sie sich auch in der gesellschaftlichen Verankerung einer Marke. Wie bei Apple wird sie aber auch durch Product Features sichtbar, die im Leben der Menschen eine Rolle spielen.«
Um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass Menschen die Geschichte eines Marken-Purpose weitererzählen, eine Werbung mit ihrem Netzwerk teilen oder gar über ihre privaten Social Media Konten verbreiten wollen, müssen sie selbst Teil dieser Geschichte sein wollen. Das Stichwort lautet Brand Experience (nicht zu verwechseln mit der Customer Experience, die eine Zielgruppe voraussetzt, die sich bereits im Customer Mode bzw. an irgendeinem Punkt in der Customer Journey befindet). Unerwartet bringen Brand Experiences direkten Mehrwert ins Leben von Menschen, der auf kreative Weise den Purpose interpretiert. Sea Hero Quest und What We Do Next von der Telekom, leer geräumte Regale im Edeka oder die Protection Ad von Nivea sind bemerkenswerte Beispiele, von denen sich drei Kriterien ableiten lassen, die Werbung als Mehrwert wahrnehmen lassen: wenn sie i) ein direktes Hilfsangebot unterbreitet, ii) das eigene Wertekostüm emotional zum Ausdruck bringt oder iii) gute Unterhaltung bietet. Wer Brand Experiences als ergänzende, taktische Marketingmaßnahme versteht, die einen Service an der Gesellschaft darstellt, macht seinen Purpose im echten Leben greifbar, stärkt die emotionale Verbindung zu Bestands- und Neukunden und gewinnt an Reichweite.

Gute, authentische Geschichten sind von ursprünglicher Kraft. Sie rühren uns im Kino zu Tränen, lassen uns jede Silbe eines Romans verschlingen und bereiten uns schlaflose Nächte, bis wir endlich alle Episoden der neuen Netflix-Reihe weggesuchtet haben. Auf dieselbe Weise kann smartes Storytelling aber auch Menschen mit unseren Markenwerten verbinden. Von Strategie bis Kampagne, von Insight bis Konzept, von Briefing bis Idee: Storytelling ist der rote Faden, das verbindende Element, die Brücke zwischen Selbst- und Fremdbild. Wie heißt es doch so schön: No Purpose, no Lovebrand. In symbiotischer Absicht würde ich gern mit einer zweiten Strophe ergänzen: No Story, no Glory.

Filme: Jung von Matt (Edeka Mehr Vielfalt), Wieden + Kennedy (Nike You Can’t Stop Us), Saatchi & Saatchi (Telekom What We Do Next)